Erster Teil
Vera, eine 30-jährige Frau meldet sich bei mir mit dem Ziel, den seit ihrer Jugend dauernden Teufelskreis zwischen Diät und Essanfällen zu beenden und ihr Essverhalten zu normalisieren. Zweimal habe sie 30 Kilogramm ab- und wieder zugenommen.
Ihre Erkenntnis: Auf diese Weise funktioniert es nicht!
Es gehe ihr deshalb nicht in erster Linie darum abzunehmen. Sie will ihren Körper wie er ist akzeptieren. Das Wichtigste sei, aus diesem Teufelskreis ums Essen herauszukommen.
Vera’s Leben besteht aus Arbeit: täglich 10-12 Stunden. Die übrige Zeit verbringt sie mit Fastfood-Attacken, täglichem Kiffen und Serien schauen. Sie wiegt 125 Kg.
Im Bewusstsein, dass sie eine tiefgreifende Veränderung ihres Lebens anstrebt und Dank etwas Erspartem, unterbricht sie ihre Berufsarbeit, um ein paar Wochen Zeit für sich zu haben.
Stand acht Monaten später:
Vera kocht gern, was sie über Jahre nicht tat. Sie isst ausgewogener, strukturiert aber nicht zwanghaft, sondern flexibel. Sie kifft nicht mehr, arbeitet gemässigt in einem 80-Prozent Pensum und pflegt ihr Sozialleben. Sie hat bisher zwölf Kg abgenommen.
Was ist in diesen acht Monaten passiert?
In den nächsten Wochen beschreibe und erläutere ich sechs wichtige Phasen in ihrem bewegungs-analytischen Prozess, die wesentlich dazu beitrugen, die Essanfälle zu überwinden.
Die erste Sitzung als Ausgangspunkt: «Nicht bei sich»
Mit dem Auftrag, während 5 Minuten ihren Bewegungs-Impulsen nachzugehen, um sich mit ihrem Körper und dem Raum vertraut zu machen, bleibt Vera nach wenigen Schritten stehen und schaut lange aus dem Fenster.
«ich wollte nur in die Ferne schauen, nichts tun oder anfassen. Das fühlt sich frei an, weg von mir. Was ich sehe, hat nichts mit mir zu tun.»
«Essen ist Nervenfutter. Es hält alles, was mich belasten könnte in Schach.»
Die ersten Wochen: «Annäherung»
Durch die Gespräche erkennt Vera noch viel klarer, wie fremd sie sich geworden ist. Dies ermutigt sie zum Wagnis, einen ersten Schritt auf sich zuzugehen. Zunächst weiss sie überhaupt nicht, was sie mit sich und ihrem Körper anfangen soll. Die Vorstellung, das zu tun was ihr gerade einfällt stresst sie. Doch dann probiert sie am Anfang jeder Sitzung Bewegungen ihrer Gelenke und Gliedmassen aus, ganz einfache, kleine oder grössere. Sie probiert Bewegungen der Schultern aus, bewegt die Fingergelenke, die Arme, die Wirbelsäule etc. Im Verlauf einiger Wochen entspannt sich der hohe Muskeltonus allmählich, der starr gehaltene Oberkörper wird beweglicher. Sie nimmt ihren, als ‘verrostet’ empfundener Körper allmählich differenzierter wahr.
Das ‘Nicht wissen was mit sich anfangen’ wandelt sich in Neugier und Interesse. Sie ist erstaunt darüber, wie viele Bewegungen sie gerne macht.
Für Vera war der Körper nur noch ein Instrument zum Arbeiten. Sie bewohnte ihn nicht mehr. Falls sie Müdigkeit, Durst oder Schmerz überhaupt registrierte, überging sie diese Signale als störend in ihrem hauptsächlichen Anliegen, möglichst reibungslos zu funktionieren.
Für erwachsene Menschen kann es eine ziemliche Herausforderung sein, aus sich selbst heraus Bewegungen zu machen. (Nicht so für Kleinkinder, die machen das ständig und ganz selbstverständlich.) Vera ist es fremd geworden, den eigenen Körper einfach so zu bewegen, wie sie gerade Lust hat. Doch ist diese Aufgabe zugleich sehr simpel: Gelenke bewegen. Wir tun das den ganzen Tag. Doch sind wir dabei immer gerichtet auf Arbeit, Erledigungen oder zweckgerichtete Übungen. Sehr selten bewegen wir uns einfach nur zum Spass.
In diesen ersten Minuten jeder Sitzung geht es gerade darum, den Körper als Bewegungsapparat auszuprobieren um sich mit ihm vertraut zu machen. Dadurch wird eine grundlegende Verbindung zu sich und zum Körper wiederherstellt. Indem man während der Bewegung spürt, was angenehm ist und was nicht, kann man das was man tut auf diese Empfindungen abstimmen.
Dieses grundlegende Zusammenspiel zwischen Empfinden und Handeln verhilft uns dazu, passend auf körperliche und emotionale Bedürfnisse zu reagieren. Z.B einen Pullover anzuziehen, wenn einem kalt ist, sich bei Müdigkeit hinzusetzen, mit jemandem zu sprechen, wenn man sich einsam fühlt. Vera hat dies über Jahre unterbrochen. Sie funktionierte und schaltete ihre Empfindungen dabei aus.
In ihrem Alltag ist es für Vera zunächst nicht einfach, die viele freie Zeit auszufüllen. Andere Menschen auf dem Arbeitsweg zu sehen, löst in ihr das Gefühl aus, nicht mehr zugehörig zu sein. Sie fühlt sich oft einsam, zu nichts nütze oder zweifelnd an ihrem Vorhaben. Nicht arbeiten müssen ist aber zugleicht sehr entlastend und allmählich kann sie sich entspannen. Der Drang nach Süssigkeiten lässt nach. Die Portionen werden kleiner.
Fortsetzung folgt….