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Einsicht in die Therapie

Vera ist es inzwischen gewohnt, sich zu Beginn der Sitzung einige Minuten Zeit für sich selbst zu nehmen. Sie tut, was ihr gerade einfällt. Zunächst legt sie sich weiterhin auf den Boden, weil ihr entspannte Bewegungen helfen bei sich zu sein. Dann nimmt sie zunehmend den Impuls wahr aufzustehen. Vera versucht dabei in ihrem Köper präsent zu bleiben, sich nicht zu verlieren, was nicht einfach ist. Sie experimentiert mit ihrem Gleichgewicht auf einem Bein. Dies erfordert den Einsatz und das Zusammenspiel des ganzen Körpers was ihr hilft, sich auch als ganze Person wahrzunehmen. Das überrascht und freut sie. Seit Jahren sei sie nur Kopf und Denken. Der Körper sei – wie ein Anhängsel – zwar da und einsetzbar, aber sie sei gar nicht drin. Verwundert stellt sie fest, dass ihr der Krafteinsatz beim Balancieren Spass macht und ihr nicht schwer fällt. Bisher war jegliche körperliche Anstrengung immer ‘das Schlechte’ und kostete Überwindung! Entspannen und Loslassen war ‘das Gute’.

Auch im Alltag beginnt sie, sich mehr Raum zu nehmen für ihre eigenen Interessen. Es gelingt ihr besser auf eigene Grenzen zu achten, auch mal nein zu sagen. Sie realisiert, dass sie weniger Süsses brauche als noch vor einigen Wochen. Unkontrollierte Essanfälle kommen kaum mehr vor. Jetzt wolle sie schauen, welche Nahrung ihr eigentlich guttue.

Vera hat ihre Berufsarbeit wieder aufgenommen. Die Freude darüber, dass ihre Arbeit für andere wichtig ist, bringt alte Muster wieder auf’s Tapet: ihre sehr hohe Leistungsbereit­schaft, verbunden mit erneuter Vernachlässigung ihrer eigenen Bedürfnisse und Interessen. Sie meint dazu: «Ich bin sogar zu faul auf’s WC zu gehen.» Mein Einwand: «könnte es statt Faulheit auch daran liegen, dass Sie sich von der Arbeit, dem Leisten für andere, nicht mehr lösen können? Dass diese Leistung an Wert gewinnt, während ihre eigenen Interessen Wert verlieren?»Sie meint: «Vielleicht…. Von der Arbeit nur schon einen Moment wegzugehen, fühlt sich im Vergleich leer und langweilig an.»

 

Nach der intensiven emotionalen Belastungsprobe dadurch, dass Vera sich ihren verdrängten Gefühlen zuwenden konnte, erwächst neuer Mut und Kraft in ihr. Vera steht auf – weil sie es will. Sich aufrichten bedeutet an dieser Stelle auch, den Blick auch wieder nach aussen zu richten, sich nicht mehr ausschliesslich auf sich selbst zu konzentrieren, sondern auch das Umfeld wieder zu integrieren. Vera spürt Tatendrang hier im Raum, wie auch in ihrem Alltag und im Berufsleben. Dies ist ein heikler Moment, da sie es gewohnt ist, sofort in Aktionismus zu stürzen und sich selbst erneut zu verlieren. Das Spiel mit flexibler Stabilität und Gleichgewicht – was Spüren voraussetzt – hilft ihr, einen sicheren Stand zu erlangen, um auf dieser Grundlage ins Handeln zu kommen.

Dass Vera jetzt die Berufsarbeit wieder intensiviert, entspricht diesem Prozess. Durch ihre zurückgeholte Fähigkeit sich selbst wahrzunehmen, gelingt es ihr besser, eine Übersicht über das aktuelle Geschehen, ihren körperlichen und psychischen Zustand und ihr Handeln zu bekommen. Sie erkennt ihre Strategie im Versuch, sich selbst mehr wert zu ‘verdienen’ durch gute Leistung und der damit verbundenen Gefahr, sich dem Arbeiten erneut mit ‘Haut und Haar’ zu überlassen. Dies ist eine passive Weise zu funktionieren, indem man sich selbst zur Seite schiebt. Die Verantwortung nur noch für die Arbeit übernimmt, aber nicht mehr für sich selbst. Nicht aufs Klo zu gehen, taxiert sie zunächst als Faulheit. Doch ihr unmittelbares Empfinden der Leere und Langeweile legt eine andere Sichtweise nahe: wenn sie selbst nicht bei sich ist, sich verloren hat, entsteht Leere, sobald sie sich von der Arbeit abwendet. Diese Leere konnte Vera nur die ununterbrochene Beschäftigung überbrücken, oder dann durch den Griff zum Essen.